In Europa zählte lange Zeit nur die Quantität, eventuell noch die Qualität der Nahrung – jedoch nicht die Art und Weise, wie sie verzehrt wurde. Erst im späten Mittelalter begann der europäische Adel, sich mit seinen Sitten und Manieren bei Tisch zu befassen. Die geltenden Regeln wurden in so genannten „Tischzuchten“ festgehalten.
In den Essgewohnheiten spiegelten sich die sozialen und kulturellen Unterschiede zur damaligen Zeit dramatisch wider. Bei denen, die lediglich ihren Hunger sättigten, um ihre Arbeitskraft zu erhalten, ging es relativ grob zu: Es wurde geschlungen, gespuckt, geschnäuzt, gekratzt. Den im Überfluss lebenden Höflingen hingegen ging es beim Essen vielmehr darum, durch das Einhalten der Etikette die Zugehörigkeit zur gehobenen Schicht zu beweisen.
Viele der ersten Regeln waren unter Hygieneaspekten sinnvoll: So sollte man zum Beispiel nicht in das Tischtuch schnäuzen oder die abgenagten Knochen zurück in die Schüssel legen. Allerdings wurden die Tischzuchten übertrieben detailliert und immer komplizierter, sodass ein Fremdling schnell entlarvt war.
Das Bedürfnis, sich nach unten abzugrenzen, war groß, deshalb wurden die Etiketteregeln immer weiter verfeinert, schnell akzeptiert und durch hartes Training an den Nachwuchs weitergegeben.
Heute gelten perfekte Tischmanieren immer noch als Beweis für eine gute Kinderstube. Ihr Zweck ist allerdings nicht mehr die Abgrenzung nach unten, sondern ein höherer Genuss. Von zweifelhaften Tischzuchten haben sich moderne Tischsitten längst abgegrenzt. Modern ist, was situativ sinnvoll und angemessen ist.