Warum das nicht vorteilhaft wäre und wie Sie den richtigen Mix aus Form und Freiheit finden, verrät Ihnen dieser Beitrag aus dem Trend zur Individualität: Fluch oder Segen?
In unserer Gesellschaft ist Individualismus weitgehend mit positiven Assoziationen wie Freiheit, Flexibilität und Vielseitigkeit verbunden. Zu Recht?
Individualismus kann ganz schön anstrengend sein
AHA-Erlebnis von Agnes Anna Jarosch, Chefredakteurin :
Vor einigen Tagen war ich auf einer Geburtstagsfeier, die in einem Restaurant stattfand. Unter den Gästen befand sich eine junge Familie mit einem einjährigen Sohn. Das Kind schrie – und hörte nicht mehr auf. Es schrie so lange, bis es sich richtig in „Rage gebrüllt” hatte. Der Vater wollte den übermüdeten Sohn mit einem Schnuller beruhigen, doch die Mutter intervenierte. „Der Schnuller unterdrückt nur die Emotionen des Kindes”, war ihr Argument. 20 Erwachsene und das Geburtstagskind schwiegen und lauschten weiter dem Geschrei des Kindes.
Es ist sicherlich ein Fortschritt, dass die Individualität von Kindern mehr gefördert wird als früher. Doch ist es angemessen, dass die individuellen Bedürfnisse eines Wesens (in diesem Fall des einjährigen Sohnes) über die Bedürfnisse anderer Wesen (in diesem Fall der 21 Erwachsenen) gestellt werden? Wie funktioniert eine Gesellschaft, die nur noch aus Individualisten besteht?
? Was bedeutet Individualität für Sie?
Individualismus ist eine Betrachtungsweise, bei der es um das Wohlergehen, die Bedürfnisse und Merkmale eines einzelnen Menschen geht. Das Gegenteil von Individualismus ist Kollektivismus, der in vielen asiatischen Ländern verbreitet ist: Hier steht das Wohlergehen einer Gruppe im Vordergrund. Die Interessen der Einzelnen werden dem Wohl der Gruppe untergeordnet.
Flexible Regeln bei den Umgangsformen
Der Trend zur Individualität hat zur Folge, dass Umgangsformen flexibel gehandhabt und den Bedürfnissen des Einzelnen beziehungsweise der jeweiligen Situation angepasst werden. Es bedeutet jedoch nicht, dass die Bedürfnisse anderer komplett missachtet werden können, wie in der Eingangsgeschichte beschrieben.
Warum die Grundsätze von früher heute nicht mehr genügen
Die uns überlieferten Umgangsformen basierten hauptsächlich auf zwei Grundsätzen:
- Ein Mann tut einer Frau etwas Gutes und
- ein jüngerer Mensch hilft einem älteren.
Diese Basis soll weder angezweifelt noch abgeschafft werden. Zeitgemäß ist es jedoch, sie zu erweitern. Frühere Generationen hatten es mit der „2-Punkte-Basis” leicht, zumindest im Vergleich zu heute.
Heute sind die Regeln aus 3 Gründen komplizierter:
- Die Rolle der Frau verändert sich
Die überlieferten Regeln stammen aus Zeiten, in denen es nur wenige berufstätige Frauen gab. Durch die Emanzipation und die somit veränderte Stellung der Frau in der Gesellschaft passen viele der alten „Anweisungen” nicht mehr in unsere Zeit. Es muss also neu und umgedacht werden! Wer ist in der Gast- oder Gastgeberposition? Wer hat welche berufliche Position inne?
Das -Beispiel: Emanzipation und ihre Tücken
Von Agnes Anna Jarosch, Chefredakteurin : Vor einigen Tagen lud ich einen potenziellen Geschäftspartner zum Essen ein. Ich war in der Gastgeber-Position, hatte die Einladung ausgesprochen, den Tisch reserviert und gab bei der Bestellung Empfehlungen ab. Dennoch war es dem Herrn sichtlich unangenehm, eine Frau die Rechnung zahlen zu lassen. Deswegen einigten wir uns schnell darauf, dass die nächste Essensrechnung auf ihn geht. Durch diesen Kompromiss entspannte sich die Situation.
- Die Verschiebung der Alterspyramide
Es gab früher keine zahlenmäßig so starke ältere Generation. Grund: Die Menschen werden heute dank medizinischer Fortschritte und verbesserter Lebensbedingungen viel älter als früher. Außerdem haben sich die Umgangsformen in den letzten Jahren teils deutlich verändert. Das führt zu größeren Unterschieden zwischen alten und neuen Formen, sodass Kompromisse gefragt sind.
Das -Beispiel: Kleidungsgeschmack von Alt und Jung
Der 15-jährige Enkel steht auf Rapper-Kleidung (übergroße T-Shirts, Baseball-Caps, schwere Ketten und Jeans, bei denen der Schritt in den Kniekehlen hängt). Zum Geburtstag der Oma weigert er sich, eine Krawatte und ein Sakko anzuziehen, tauscht die Rapper-Kluft jedoch nach einiger Diskussion mit den Eltern gegen eine gerade geschnittene Jeans und ein weißes Hemd, um der Oma einen Gefallen zu tun.
- Technische Entwicklungen schreiten voran
Neue Kommunikationswege wie E-Mail, Handy, SMS und Internet sowie die wachsende Globalisierung erfordern ständig neue Umgangsformen und Anpassungen. Die fortschreitende Technik verändert die Kommunikationsformen (z. B. , , ) und erschafft neue Möglichkeiten. Nehmen Sie alle diese Gründe zusammen, wird deutlich, warum Sie die vielschichtige Basis für moderne Regeln in Sachen Umgangsformen unbedingt kennen und individuell anwenden sollten.
Das -Beispiel: Die Emanzipation des Internets
Zu seinen Anfangszeiten war das Internet ein Medium, das „Computer-Freaks unter sich” nutzten. Sie tauschten Neuigkeiten aus, duzten sich und kommunizierten in Abkürzungen. Sie scherten sich weder um Höflichkeitsfloskeln noch um die Groß- und Kleinschreibung. Heute werden im Internet Geschäfte abgeschlossen. Die E-Mail ersetzt den Geschäftsbrief, sodass die Sie-Anrede und fehlerfreies Hochdeutsch auch im Internet erforderlich sind.
Freiheit versus Unsicherheit
Je individueller Sie Regeln handhaben, desto größer wird Ihre persönliche Freiheit – einerseits. Andererseits birgt Facettenreichtum bei der Anwendung von Etikette-Regeln auch viele Unsicherheiten und Risiken.
Erstens ist die Gefahr, etwas falsch zu machen, größer, als wenn feste Richtlinien vorgegeben sind. Zweitens fordern flexible Strukturen stetes Mitdenken und immer neue Entscheidungen – oft viele Male pro Tag.
Das kann anstrengend werden, wie etliche Studien beweisen . Die Ansicht „Je mehr man selbst entscheiden kann, desto freier und glücklicher ist man” ist ein Irrglaube, sagt auch der Psychologe Barry Schwartz:
„Man hat stillschweigend angenommen: je mehr Auswahl, desto besser; man kann gar nicht zu viel davon haben, denn jede neue Wahlmöglichkeit vergrößert die Freiheit. Aber diese auf den ersten Blick völlig vernünftige Annahme ist schlicht falsch. Wenn man den Menschen zu viele Wahlmöglichkeiten gibt, nimmt man ihnen etwas von ihrer Freiheit. Es wird schwieriger, eine Entscheidung zu fällen, schlimmstenfalls wird man entscheidungsunfähig – und das ist dann genauso, als ob man überhaupt keine Entscheidungsfreiheit hätte.”
Neue Studien: Wer viel entscheidet, wird schneller müde
Wissenschaftler der Universität von Minnesota/USA haben herausgefunden: Wer viel entscheiden muss, wird schneller müde. Entscheidungen sind immer mit einer Auswahl verbunden, die wiederum für das Gehirn belastend ist. Das gilt unabhängig davon, ob es sich um eine wichtige oder unwichtige, um eine angenehme oder unangenehme Entscheidung handelt.
Die Wissenschaftler empfehlen deshalb, die Anzahl der Entscheidungen auf das Wesentliche zu reduzieren. Außerdem ist es hilfreich, auch die Anzahl der Wahlmöglichkeiten zu begrenzen, wie folgende psychologische Studie (Iyengar und Lepper, 2000) beweist:
„In einem Supermarkt bauten Psychologen einen Probierstand auf. Auf dem Tisch befanden sich entweder 6 oder 24 Gläser mit verschiedenen exotischen Marmeladen. Wann blieben die Kunden stehen? 60 % der Kunden blieben bei dem größeren Angebot stehen, dagegen nur 40 %, als weniger Alternativen zur Auswahl standen. Doch wann kauften die Kunden tatsächlich von den angebotenen Marmeladen? Bei 24 Wahlmöglichkeiten erstanden nur 3 % der Kunden ein oder mehrere Gläser. Als es jedoch nur 6 Alternativen gab, kauften 30 % etwas.”
Professor Gerd Gigerenzer, Direktor des Center for Adaptive Behaviour and Cognition (ABC) am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, schlussfolgert: „Es gibt eine Grenze für Informationen, die der Mensch verdauen kann, eine Grenze, die oft der magischen Zahl 7 entspricht, plus/minus zwei, der Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses.”
Diese Studienerkenntnisse führen zu der Schlussfolgerung: Grenzenlose individuelle Möglichkeiten sind nicht unbedingt erstrebenswert. Klare Regeln, die als richtig anerkannt werden, geben Sicherheit und entlasten das Gehirn für die wesentlichen und wichtigen Entscheidungen im Leben.
So finden Sie in 4 Schritten zur richtigen Form
Die modernen Anforderungen an gute, befolgenswerte Umgangsformen sind hoch:
- Sie sollen das tägliche Miteinander einfach und verständlich regeln, so wie ein Straßenschild den Verkehr regelt.
- Sie sollen nachvollziehbar und praxistauglich sein und nicht zum Selbstzweck werden.
- Sie sollen niemandem schaden.
- Sie sollen werteorientiert sein, die Achtung vor dem Gegenüber und vor sich selbst wahren und fördern.
Nicht in jeder Situation werden die Standardregeln diesen hohen Ansprüchen gerecht. Manchmal müssen Sie die gängigen Formen erweitern und flexibel handhaben, um respektvoll und höflich zu handeln.
Der Königsweg: Kombinieren Sie ein gesundes Maß an Entscheidungsfreiheit mit einem gesunden Maß an Regeln und Selbstbeschränkung.
Nutzen Sie zum Beispiel das folgende 4-Schritte-Programm aus , das Ihnen Freiraum gewährt und trotzdem die Entscheidungen erleichtert.
1. Schritt – Prüfen Sie: In welcher Situation befinde ich mich?
Befinde ich mich im
- privaten Bereich?
- beruflichen Umfeld?
Dieser Punkt entscheidet über alles Weitere und wird deshalb zuallererst geklärt. Die Prüfung „beruflich oder privat” dient Ihnen als Grundlage für alle weiteren Entscheidungen.
Die Grundkriterien im Privatleben: Geschlecht und Alter
Die frühere Basis bleibt im Privatleben erhalten. Ältere Menschen und Damen nehmen im privaten Bereich nach wie vor eine Vorrangstellung ein.
Das -Beispiel: Bekanntmachen (privat)
Eine deutlich ältere Person erfährt als Erste, wer die oder der Jüngere ist, und bevor dem Herrn der Name der Dame gesagt wird, bekommt sie seinen genannt.
Das Grundkriterium im Beruf: Hierarchie
Die privaten Regeln sind im beruflichen Bereich nachrangig. Sie werden dort nur dann als Hilfskriterium herangezogen, wenn es keinen hierarchischen Unterschied gibt.
Das -Beispiel: Bekanntmachen (beruflich)
Eine neue Mitarbeiterin wird dem Chef vorgestellt, selbst wenn sie Jahrzehnte älter ist als er. Die überlieferten Regeln werden hier, wie Sie sehen, teils also geradezu auf den Kopf gestellt. Allerdings sind Toleranz und eine individuelle Anpassung gefragt: Die ältere Generation ist daran gewöhnt, Damen auch im Berufsleben bevorzugt zu behandeln.
2. Schritt – Prüfen Sie: Um was für einen Anlass handelt es sich?
Nehme ich teil an
- einer offiziellen Veranstaltung (wie Dinner, Empfang, Festakt, Ball, Geschäftsjubiläum, größeres Familienfest wie Hochzeit, runder Geburtstag)?
- einem inoffiziellen Geschehen (wie Freizeitveranstaltung, Fete im Freundeskreis, Volksfest, Biergarten)?
Selbst Menschen, die sich nicht mit Stil- und Etikette-Fragen beschäftigen, spüren meistens intuitiv, dass bei verschiedenen Anlässen unterschiedliche Verhaltensformen angebracht sind.
Die Faustregel: Je offizieller eine Veranstaltung oder eine Zusammenkunft ist, desto korrekter sollten die Umgangsformen-Regeln eingehalten werden.
Das -Beispiel: Tischsitten
Bei einem Geschäftsessen oder einem festlichen Dinner wäre es ein Fauxpas, einen Hähnchenschenkel oder ein Lammkotelett in die Hand zu nehmen oder Brot in die Sauce zu tunken.
Sind Sie hingegen auf einem Volksfest, wird es Ihnen niemand verübeln, wenn Sie den Hähnchenschenkel aus der Hand essen, einen Lammkotelett- Knochen abnagen oder ein Stück Brot „zweckentfremden”.
3. Schritt – Prüfen Sie: Mit wem bin ich zusammen?
Bin ich zusammen mit
- Fremden?
- Verwandten, Bekannten, Freundinnen und Freunden?
- wesentlich älteren, jüngeren oder gleichaltrigen Personen?
- beruflich Gleichgestellten, Vorgesetzten, Mitarbeitenden?
- der Kundschaft?
Ihr Verhalten, Ihre Wortwahl und Ihr Auftreten werden auf natürliche Weise variieren, je nachdem, ob Sie mit Ihren Kunden, Ihren Kindern oder Ihrem besten Freund/Ihrer besten Freundin sprechen.
Bei der Anpassung müssen Sie es aber nicht übertreiben. Ein Praxisversuch in einer Bank bewies zum Beispiel: Kunden gehen nicht auf die Bankangestellten zu, die wie sie leger gekleidet sind, sondern auf die, die gepflegte Geschäftskleidung tragen (Anzug oder Kostüm). Wichtig ist deshalb, sich nicht wahllos anzupassen, sondern die Erwartungen anderer an Sie und damit Ihre Rolle zu kennen und zu berücksichtigen.
Akzeptieren Sie, dass junge Menschen moderne Formen leben
„Personengerecht” schließt „altersgerecht” mit ein. Das bedeutet natürlich nicht, dass sich etwa ein 70-Jähriger im Kreis seiner Enkel wie ein Teenager benehmen soll. Er kann aber durchaus akzeptieren, wie sehr sich die Sitten seit seiner Jugend geändert haben, und muss die junge Generation nicht in Bausch und Bogen als unerzogen abstempeln, weil sie sich anders benimmt als er im entsprechenden Alter. Vorausgesetzt natürlich, die Jugendlichen begegnen ihm mit der notwendigen Grundhöflichkeit.
Respektieren Sie die Gepflogenheiten der älteren Generation
Umgekehrt gilt: Als jüngerer Mensch machen Sie sich bitte immer klar, dass jemand, der bestimmte Formen zig Jahre gepflegt hat, diese nicht ohne Weiteres ändern oder aufgeben möchte. Respektieren Sie die Wünsche und Vorstellungen der älteren Generation. Oft sind es nur Kleinigkeiten, mit denen Sie bei Seniorinnen und Senioren Freude oder Ärger erwecken.
Die -Beispiele: Eine Hand in der Hosentasche beim Gespräch wird von den meisten älteren Menschen als Respektlosigkeit empfunden, weil sie das als unhöflich verinnerlicht haben. Es ist leicht, auf diese bequeme Haltung im Umgang mit älteren Menschen zu verzichten.
Ebenso wenig schmerzt es, statt „Hallo” oder „Hey” „Guten Tag (Morgen, Abend)” und statt „Und tschüss” „Auf Wiedersehen” zu sagen. Flapsige Grußformeln sind typische „Aufreger” für die meisten der 70plus-Generation.
4. Schritt – Prüfen Sie: Welche (soziale) Rolle nehme ich ein?
In welcher Rolle agiere ich gerade? Bin ich
- Gast oder Gastgeberin/Gastgeber?
- Elternteil, Bruder, Schwester, Kind, Ehepartnerin/ -partner?
- Chefin/Chef, Vorgesetzte/Vorgesetzter in der mittleren Hierarchie/Team-Mitglied?
- Vereinsmitglied, Teil einer (Schul-)Gemeinschaft, einer Sportmannschaft, eines leitenden Gremiums?
Jeder Mensch füllt verschiedene soziale Rollen aus. So kann eine Frau zum Beispiel Chefin, Mutter, Tochter, Schwester und Arbeitskollegin sein, ein Mann Arbeitnehmer, Gewerkschaftsmitglied, Sohn, Vater und Vereinsmitglied. An die verschiedenen sozialen Rollen werden zum Teil sehr unterschiedliche Erwartungen von Personen des Umfelds geknüpft.
Das bedeutet: Sie werden sich des Öfteren – wahrscheinlich mehrmals am Tag – einer bestimmten Rollenerwartung seitens anderer gegenübersehen. Erfüllen Sie diese Erwartungen nicht, ist die unkomplizierte Kommunikation gestört, kann eine Vorbildfunktion leiden, der Haussegen schief hängen und mehr.
Das -Beispiel: Begrüßungen in verschiedenen Rollen
Beate ist Ehefrau, Mutter und Führungskraft im mittleren Management. In der letzten Rolle wird von ihr erwartet, dass sie für eine Begrüßung den Handschlag wählt. Würde sie beispielsweise Kundinnen oder Geschäftspartner umarmen, „fiele sie aus der Rolle”, wie es der Volksmund treffend sagt. Für die „Freundin”-Rolle wäre der Handschlag zu distanziert, in der Vorgesetzten-Rolle jedoch wäre die Umarmung zu intim.
Kalkulieren Sie also bei der Entscheidung für die individuell richtige Umgangsform auch die jeweilige Rolle ein, die Sie gerade ausüben. Machen Sie sich darüber hinaus bewusst: Auch Ihre persönliche Interpretation der Rolle, die Sie jeweils ausüben, beeinflusst Ihr Verhalten. Ihr Rollenverständnis hat ebenfalls Auswirkungen auf das individuelle Anwenden von Umgangsformen.
3 Beispiele aus für gelungene Regelbrüche
1. Ein Außenseiter unter Besserwissern
Vielleicht kennen Sie diese Geschichte, die in mehreren Varianten erzählt wird:
Ein berühmter Kaiser lud einmal einen armen Mann, der ihm einen großen Dienst erwiesen hatte, zum Abendessen ein. Dieser wusste nicht, wofür die bereitstehende Fingerschale gedacht war, und trank sie in einem Zug aus. Die vornehmen Gäste witzelten hinter vorgehaltener Hand über den armen unwissenden Mann. Das war dem Kaiser gar nicht recht. Also setzte er seine Fingerschale ebenfalls an die Lippen und trank das lauwarme Wasser in einem Zug aus. Das Lachen hatte ein schnelles Ende!
Experten-Wissen von -Chefredakteurin Agnes Anna Jarosch:
Was nicht alles unter dem Deckmantel der „guten Manieren” so geschieht: Im letzten Spanienurlaub lernten mein Mann und ich unfreiwillig ein Paar kennen, das offensichtlich noch nicht so lange zusammen war. Da er – nennen wir ihn Peter – Spanisch konnte und seine Freundin – nennen wir sie Susanne – nicht, fragte er sie, was er an der Bar für sie bestellen dürfe.
Die schroffe Antwort: „Wasser. Aber still. Zimmerwarm. Ohne Eis und ohne Zitrone!” Kein Blick, kein „bitte”. Peter bestellte das Getränk für sie und fragte nach einer Weile, ob es wohltemperiert sei. Daraufhin fuhr Susanne ihren Begleiter an:
„Was soll denn diese Frage? Du siehst doch, dass unsere Bekannten noch keine Getränke haben. Und du weißt doch, dass es unhöflich ist, allein anzutrinken. Also bitte!” Glauben Sie mir: Allen Beteiligten wäre es lieber gewesen, Susanne hätte den kleinen Regelbruch begangen und kurz von ihrem Wasser genippt. So hätten wir nicht Zeuge dieser unschönen Zurechtweisung werden müssen.
Das -Fazit: Wenn Sie vor der Wahl stehen, einen Menschen bloßzustellen oder ausnahmsweise einmal eine Formregel nicht einzuhalten, ist Letzteres fast immer das kleinere Übel. Entscheiden Sie – wie der Kaiser in unserer Geschichte –, dass ein Regelbruch akzeptabel ist, um einen anderen Menschen zu schützen. Gerade wenn Sie in der Gastgeberrolle sind, ist es Ihr Recht und Ihre Pflicht, für das Wohl aller Gäste zu sorgen.
2. Wann das Trinkgeld zur Chefsache wird
Aus Erfahrung und Gesprächen weiß ich: Viele Selbstständige freuen sich über Trinkgeld. Die Etiketteregel lautet jedoch: Chefs bekommen kein Trinkgeld. Doch gilt ein Selbstständiger, der keine oder nur einen Angestellten hat, als Chef? Und kennt er die Regel, dass Chefs kein Trinkgeld bekommen, überhaupt?
Fragen Sie sich: Wie ist das Rollenverständnis meines Gegenübers? Selbstständige Masseure, Kosmetikerinnen oder Friseure nehmen sich selbst häufig nicht als „Chef”, sondern als selbstständigen Dienstleister wahr. Dementsprechend können Sie handeln: Gebe ich meiner Kosmetikerin Trinkgeld und merke ich, dass sie sich freut, freue ich mich auch. Entdecke ich im Blick eines „Chefs” oder einer „Chefin” ein kurzes Zögern, kann ich meine Regelkenntnis immer noch unter Beweis stellen:
„Ich habe zwar gelernt, dass Chefs kein Trinkgeld bekommen, doch das finde ich ungerecht. Ich bin sehr zufrieden mit dem guten Service und freue mich, wenn Sie meine Anerkennung trotzdem annehmen.” Oder, falls mein Gegenüber Personal hat: „Bitte legen Sie das für mich in die Trinkgeldbox der Belegschaft.”
Das -Fazit: Das Rollenverständnis eines jeden Menschen ist unterschiedlich. Verzichten Sie darauf, Ihre Mitmenschen in eine Rolle zu drängen, in der Sie sich selbst nicht sehen.
3. Verschätzt: Falsch gekleidet auf der Party
Ein guter Freund des Gastgebers erschien auf einer Feier (im Restaurant) zu leger gekleidet.
Empfehlenswert wäre es für ihn gewesen, sich mit dem 4-Schritte-Programm am auseinanderzusetzen. Seine falsche Kleidung war ihm sichtlich unangenehm, doch es war zu spät, um daran etwas zu ändern. Der Gastgeber sagte nichts, schützte seinen Freund jedoch, indem er auffallend schnell die Kleiderordnung lockerte und die Krawatte samt Sakko ablegte.
„Liebe Gäste, heute ist es so warm, dass ich Sie nicht lange auf die Bekleidungserleichterung warten lassen möchte.” Fast alle Herren taten es ihm gleich, und besagter Freund des Gastgebers war nicht mehr „underdressed”.
In Griechenland soll es die schöne Tradition geben, dass eine Gastgeberin zu Beginn des Essens kleckert oder etwas Wein verschüttet: Dieses kleine Malheur entspannt die Atmosphäre am Tisch. Den Gästen muss es nicht übermäßig peinlich sein, wenn sie im Laufe des Abends selbst etwas verschütten sollten.
Das -Fazit: Individuelle Lösungen können helfen, andere ihr Gesicht wahren zu lassen. Fragen Sie sich: Erfüllt eine Umgangsform die Aufgabe, den anderen zu schützen? Und erfüllt sie die Aufgabe, Sie selbst zu schützen? Lautet die Antwort Nein, ist sehr oft eine der Situation angepasste Regelerweiterung oder -änderung hilfreich und angemessen.
Wann Sie sich besser an die Konvention halten
Die oben aufgeführten Beispiele verdeutlichen: Es gibt durchaus Situationen, in denen es angebracht ist, Regeln zu brechen oder Umgangsformen individuell anzuwenden. Generell gilt jedoch die Erkenntnis von Adolf Freiherr Knigge:
„Wer die Gesellschaft nicht entbehren kann, soll sich ihren Gebräuchen unterwerfen, weil sie mächtiger sind als er.”
Gerade in den folgenden Situationen ist es deshalb empfehlenswert, sich an die Konventionen zu halten, um keine Nachteile zu haben und niemanden zu brüskieren:
Bei offiziellen Anlässen
Das -Beispiel „Tischsitten”: Im Freundeskreis beim „Italiener um die Ecke” ist es für Sie höchstwahrscheinlich kein Nachteil, wenn Sie als Frau diskret den Lippenstift nachziehen. Bei einem festlichen Dinner wäre es ein Fauxpas. Sämtliche „Restaurationsarbeiten” gehören nicht an den Tisch, sondern hinter verschlossene Türen.
Das -Beispiel „Begrüßung”: Bei einem Vorstellungsgespräch hat die Personalleiterin oder der Gesprächsleiter das Recht der Entscheidung, ob ein Handschlag praktiziert werden soll oder nicht. Es könnte Sie im Extremfall den Job in spe kosten, wenn Sie diese Regel missachten.
Bei Begegnungen mit fremden Menschen
Das -Beispiel „Anrede”: Die Menschen haben sehr unterschiedliche Vorlieben, was die Anrede angeht. Manche möchten Titel nicht hören, andere legen großen Wert darauf. Wenn Sie die jeweilige Einstellung nicht kennen, ist es unklug, die Regel zu brechen: Solange diejenigen, die einen Titel (akademischen Grad, Adelsprädikat und anderes) tragen, nicht von sich aus anbieten, ihn wegzulassen, wird er in Verbindung mit dem Namen genannt.
Bei klaren Vorgaben des Gastgebers
Das -Beispiel „Kleidung”: Wenn sich Einladende für ihre Veranstaltung einen bestimmten Kleidungsstil wünschen, ist es für sie brüskierend, wenn diesem Wunsch nicht nachgekommen wird. In diesem Fall wird ein Regelbruch von den meisten Menschen nicht nur als Missachtung des Dresscodes, sondern als Missachtung der Person empfunden.
Bei unterschiedlichen Bedürfnissen der Gruppe und eines Individuums
Sie erinnern sich an das Eingangsbeispiel: Die Mutter des einjährigen Sohnes hatte das Bedürfnis, das Kind schreien zu lassen. Das Geburtstagskind und die anwesenden Erwachsenen hatten das Bedürfnis, den Abend ohne dauerhaftes Kindergeschrei zu genießen.
In solchen Situationen zählen das Wohl des Ranghöchsten (des Geburtstagskindes) und der Mehrheit. Ob die Mutter sich dafür entscheidet, es mit einem Schnuller zu probieren, oder es vorzieht, mit dem übermüdeten, schreienden Kind vorübergehend den Raum zu verlassen, bleibt selbstverständlich ihre Entscheidung.